
Späte Tage
Roman
Günter Giselher Krenner
ISBN: 978-3-85252-064-3
21 x 15 cm, 156 S.
15,00 €
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Kurzbeschreibung
Gern habe er hier nie gewohnt, auch hier nicht, denkt er, nachdem er die Hebetür geöffnet hat und auf den Balkon hinausgegangen ist.
Der Blick hinunter auf die nahe Stadt ist ihm vertraut und verhaßt zugleich.
Vielleicht sei es am besten, denkt er, nie mehr hierher zurückzukommen, nicht mehr zurückzukehren in diese Wohnung hier, in der er immer schon allein gewesen sei und, vor allem in den letzten Jahren, oft auch einsam, beinahe unerträglich einsam.
Seit er vor ein paar Jahren in Pension gegangen sei, seitdem man ihn pensioniert habe, sei er dem Einsamsein kaum noch einmal entkommen, es sei über ihn hergefallen und habe ihn nicht mehr losgelassen. Nur die Tage am See, weit weg von hier, hätten ihn wieder atmen lassen; und als er sie kennengelernt habe, sei noch einmal etwas wie Hoffnung in ihn zurückgekehrt, ein Gefühl, das er kaum noch gekannt habe, das er eigentlich als fremd empfunden habe, wie nicht ihm gehörend, eine Art Hoffnung ohne Zukunft, wenn es das gäbe. Mit diesem Gefühl sei auch manchmal eine Art Sehnsucht über ihn gekommen, von der er nicht geglaubt hätte, sie noch einmal zu erleben.
Er habe damals zu überstürzt diese Wohnung gekauft, denkt er, aber sein Zustand damals, sein innerer Zustand, habe ein genaueres Überlegen nicht zugelassen, und so sei er hierhergezogen an den Stadtrand, was er eigentlich nie gewollt habe, vielleicht hätte er damals trotz allem das Haus nicht verkaufen sollen, doch das alles habe er schon so oft durchdacht hinterher, denkt er, schon zu oft.
Das Meer des Morgennebels liegt noch dicht über den grauen Häusern der Stadt. Auch der Herbst hat hier keine Farben.
Er wisse nicht genau, wie lange er schon hier wohne, denkt er, er müßte die Jahre und Monate zählen, tut es aber nicht; so lange er auch hier wohne, »heimisch« sei er in dieser Wohnung niemals geworden, und er werde es auch nicht werden. Das mehrstöckige Haus und die Umgebung hier am Stadtrand stießen ihn eigentlich ab, und dennoch bringe er nicht mehr die Kraft auf, noch einmal woanders hinzuziehen »für immer«, für die Jahre, die ihm noch blieben, wie er denkt.
Als er sich umgedreht hat und die zwei Koffer im Zimmer neben der Tür in den Vorraum stehen sieht, denkt er plötzlich wieder, daß er sich freuen solle auf das, »was komme«. Er werde sie wiedersehen, einige Tage in ihrer Nähe sein, und das müsse genug sein für ihn, um sich zu freuen, um sich einem Gefühl zu nähern, das man »Glück« nenne, wie er denkt.
Noch einmal geht er durch die Räume der Wohnung. Alles sei so, daß er es zurücklassen könne.
Er stellt die Koffer in den Vorraum, zieht den Mantel an und geht zurück durch das Wohnzimmer auf den Balkon.
Schon immer hätten größere Städte, nicht nur diese hier, für ihn etwas Abstoßendes an sich gehabt, denkt er, etwas ihn beinahe Erschreckendes, ihn irgendwie Beunruhigendes; und dennoch wohne er hier, weil er damals sein Haus so schnell wie möglich habe verlassen und alles mit dem Haus Zusammenhängende habe fliehen wollen, weil er es »fluchtartig« hinter sich gelassen habe, wie er jetzt denkt, obwohl es dann kein Hinter-sich-Lassen gewesen sei, so wie er es sich vorgestellt habe, denn seinen Gedanken habe er noch nie entfliehen können und vor allem damals nicht. Zu groß sei seine Enttäuschung gewesen, zu »umfassend«; er sei damals nicht imstande gewesen, das, was er getan habe, vorher zu überlegen, zu durchdenken, die Enttäuschung habe ihn vor sich hergetrieben, und er sei sich ihr gegenüber hilflos vorgekommen, er habe nichts anderes mehr verspürt als ein haltloses Stürzen, wie er denkt.
Nur verschwommen sieht er jetzt den spitzen Turm des Domes, die Hochhäuser weiter hinten sind kaum zu erkennen, und kurz denkt er, ob er sie wirklich, wenn auch undeutlich, sehe, oder ob er sich ihre Umrisse nur vorstelle.
So dicht wie im Spätherbst sei der Nebel noch nicht, aber der Schleier in und über der Stadt würde sich den ganzen Tag lang nicht heben; doch heute mache ihm das nichts aus, wie er denkt, denn bald werde er die graue Stadt verlassen haben.
Er stellt sich an das Balkongeländer, um auf die Straße vor dem Haus hinuntersehen zu können.
Schon lange hat er nicht mehr etwas wie Erwartung empfunden, und die Gedanken, die er jetzt hat, kommen ihm wieder beinahe fremd vor, eigenartig, wie wenn sie nicht von ihm selbst gedacht würden, wie wenn sie jemand anderer in ihm denke …