Avantgardegalerien der 1970er-Jahre in Wien unter der Leitung von Kurt Kalb und Peter Allmayer-Beck
Galerie Kalb in der Grünangergasse 12 | Galerie Schapira & Beck in der Ballgasse 6 | Galerie Kalb in der Prinz-Eugen-Strasse 16
Semirah Heilingsetzer, Berthold Ecker
ISBN: 978-3-99126-164-3
28,5×24,5 cm, 280 Seiten, zahlr. Farb- u. S/W-Abb., Hardcover
34,00 €
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Kurzbeschreibung
Die 1972 eröffnete Galerie Grünangergasse 12 zeigte ein Programm bedeutender österreichischer Künstler wie etwa Christian Ludwig Attersee, Günter Brus, Bruno Gironcoli, Walter Pichler, Arnulf Rainer, Max Peintner, Hermann Nitsch, Dieter Roth, Gerhard Rühm, Franz Xaver Ölzant, Raimund Abraham, Georg Baselitz, Peter Kubelka, Dominik Steiger und Kurt Kocherscheidt. Kurt Kalb hatte die Galerie 1972 gegründet und bis Ende 1975 geführt. Der entscheidende Beitrag von Kurt Kalb beschrankte sich nicht darauf, neue Möglichkeiten zur Präsentation und zum entsprechend geförderten Absatz der Werke vielversprechender Proponenten zu eröffnen, sondern richtete sich erfolgreich auf die Unterstützung des gegenseitigen Austausches und die Entwicklung fruchtbarer persönlicher Kontakte.
Nach Schließung der Galerie konnte mithilfe der Initiative von Peter Allmayer-Beck, Walter Pichler, Christian Ludwig Attersee und der finanziellen Unterstützung von Kurt Schapira eine Galerie etabliert werden, die sich weiterhin dieser Avantgarde-Kunstler annahm. Unter der Leitung von Peter Allmayer-Beck und Kurt Schapira begann im Jahr 1976 der Betrieb der Galerie Schapira & Beck in der Ballgasse 6. Trotz Schapiras unerwarteten Ablebens kurz nach Eröffnung bestand die Galerie noch bis 1977. Kurt Kalb eröffnete 1976 eine Galerie in der Prinz-Eugen-Straße 16 und zeigte dort Arbeiten von Dieter Roth, Gerhard Rühm, Günter Brus und Maria Lassnig, bevor er eine neue Galerie in der Bäckerstraße gründete, die er in der Folge drei Jahrzehnte leitete.
Die Beiträge von Christian Ludwig Attersee, Berthold Ecker, Semirah Heilingsetzer, Hans Rauscher, Christian Reder, Rolf Schwendter und Patrick Werkner beleuchten ein Jahrzehnt Wiener Kunstgeschehen. Die Fotografien von Peter Baum, Kristian Bissuti, Gabriela Brandenstein, Otto Breicha, Padhi Frieberger, Franz Hubmann, Friedl Kubelka, Karin Mack, Gino Molin-Pradel, Lisl Ponger, Cora Pongracz, Christian Skrein, Elfi Tripamer und von zahlreichen weiteren Zeitzeugen und Zeitzeuginnen dokumentieren es auf vielfältige Weise.
[Hrsg.: Semirah Heilingsetzer, Berthold Ecker.
Red.: Semirah Heilingsetzer.
Texte: Christian Ludwig Attersee, Berthold Ecker, Semirah Heilingsetzer, Hans Rauscher, Christian Reder, Rolf Schwendter, Patrick Werkner]
[artedition · Verlag Bibliothek der Provinz]
Rezensionen
Hans Rauscher: Heim der AvantgardeEin akribisch dokumentierter, reich illustrierter Bildband zeigt die Geschichte zweier wichtiger Kunstgalerien der 70er-Jahre. Ein Riesenmosaik einer starken Szene.
Christian Ludwig Attersee. Günter Brus. Bruno Gironcoli. Kurt „Kappa“ Kocherscheidt. Hermann Nitsch. Max Peintner. Walter Pichler. Dieter Roth. Gerhard Rühm. Arnulf Rainer.
Österreichische Avantgarde. Das Heim dafür boten ein paar entscheidende Jahre lang in den 70ern des vergangenen Jahrhunderts zwei Galerien in der Wiener Innenstadt. Die Galerie Grünangergasse 12 (1972–75) von Kurt Kalb und die Galerie Schapira & Beck (1975–77) von Kurt Schapira und Peter Ernst Allmayer-Beck in der Ballgasse waren Orte der Entfaltung und Absicherung für die Maler, die eine neue Moderne eingebracht hatten.
Schub aus dem Muff
Man war, wie der Begleiter und Univ.-Prof. an der Angewandten, Christian Reder schreibt, „lose verbunden“ durch ein „Ablehnen damaliger Normalität“ und den „Einsatz für vorher undenkbare Freiheiten“. Die Künstler, die meisten zwischen 30 und 40, hatten „ihre Anfänge bereits hinter sich, waren zu führenden Künstlern der Wiener Szene aufgestiegen und hatten auch schon internationale Erfolge aufzuweisen“ (Kunstkurator und Mitherausgeber Berthold Ecker). Doch die 70er-Jahre, die Kreisky-Ära, gaben ihnen wahrscheinlich noch einmal den entscheidenden Schub aus dem Muff des Nachkriegsösterreich.
Die explodierende Kreativität brauchte adäquate Vermittler. Die Rolle, die die beiden Galerien und die drei Persönlichkeiten Kalb, Schapira und Allmayer-Beck dabei spielten, hat die Kuratorin Semirah Heilingsetzer in einem enzyklopädischen Band über die „Avantgardegalerien der 1970er-Jahre in Wien“ für die Zeitgenossen und die Nachwelt festgehalten.
Das über Jahre in systematischer Kleinarbeit entstandene Werk ist zugleich eine wissenschaftlich-kunsthistorische Dokumentation und, vor allem durch die vielen Fotos und durch intensive Erinnerungen der Akteure, ein Riesenmosaik einer Szene.
Der Kunsthändler und Freund Kurt Kalb, der „Indendant der Wiener Szene“, gründete die Galerie in der Grünangergasse als eine Art Künstlergenossenschaft. Als es ihm zu viel wurde, gewann Peter Ernst Allmayer-Beck (damals Trend/Profil) seinen Freund, den Textilindustriellen Kurt Schapira, als Financier für eine neue Galerie. Nach Schapiras Unfalltod war auch das zu Ende. Doch die Künstler waren schon Stars. Heilingsetzer: „Das schließlich erreichte Niveau und die Bedeutung zeitgenössischer künstlerischer Entfaltung in Österreich stützten sich im Wesentlichen auf die Initiative von Privatpersonen.“
Das Buch zeigt aber auch das damalige Lebensgefühl, das dichte Leben in den berühmten Lokalen, vor allem das Oswald & Kalb. Auf den vielen Fotos sind übrigens zwischen den posierenden, feiernden, selbstbewussten Herren Künstlern immer wieder die Frauen zu sehen, die mehr waren als Begleiterinnen. Evelyn Oswald. Susi Saibt. Ingrid Reder. Vielleicht ein Thema für ein eigenes Projekt?
(Hans Rauscher, Rezension im Standard-Album vom 23. September 2023, S. A5)
https://www.derstandard.at/story/3000000188069/der-zauber-der-avantgardegalerien-im-wien-der-70er
Thomas Rothschild: Ein halbes Jahrhundert vor der Performance
Als die Studenten zwischen Paris, Berlin und Prag auf die Straßen gingen, randalierte in Wien eine Schar von Epigonen, unter ihnen der spätere Rechtsaußen und Carl Schmitt-Apologet Günter Maschke, in der Innenstadt oder vor der vermeintlichen Springer-Dependance in der Mariahilfer Straße. Eingegangen ist das Häufchen der Aufrechten lediglich in den Anekdotenschatz der Regionalgeschichte und in die Memoiren der reuigen Apostaten. Die „Revolution“ fand am Donaukanal nicht in der Politik, sondern in der Kunst statt. Sie erlebte in den siebziger Jahren, von Politik, Medien und Öffentlichkeit oft eher skeptisch bis feindselig beäugt, einen Aufschwung, der einen Vergleich mit den Metropolen Paris und New York durchaus aushalten konnte.
Ihre Heimat hatten die Künstler jener Jahre nicht so sehr in den Museen, die dem Wortsinn von „museal“ in geradezu fanatischem Eifer gerecht zu werden suchten, wie in kleinen Galerien, die über die Wiener Innenstadt und darüber hinaus verstreut waren. Ihre Inhaber und Kuratoren waren in der Regel Anhänger einer der damals mit einander konkurrierenden und einander nicht selten befeindenden Schulen und Gruppen und selbst, wie ihre Schützlinge, profilierte Persönlichkeiten, die zwar ökonomischen Erwägungen, aber weitaus mehr, als es heute üblich ist, auch ästhetischen Überzeugungen folgten und mit starkem persönlichem Einsatz Kunstpolitik betrieben. Einer der farbigsten unter ihnen war der im vergangenen Jahr verstorbene frühere Antiquitätenhändler und spätere Gastronom Kurt Kalb, seinem Wesen nach eher selbst ein Künstler als ein Kunsthändler. Er wurde denn auch als Zugehöriger zur damaligen künstlerischen und literarischen Avantgarde wahrgenommen, ein begnadeter und zugleich uneitler Selbstdarsteller, originell, unterhaltsam, sympathisch und nicht denkbar ohne seine kongeniale und überaus liebenswürdige Frau Evelyn Oswald, die schon 22 Jahre vor ihm gestorben ist.
1972 gründete Kurt Kalb, allenthalben nur liebevoll „Kurti“ genannt, als Korrektiv zur verdienstvollen, von Monsignore Otto Mauer geleiteten Galerie nächst St. Stephan in unmittelbarer Nachbarschaft, die Galerie in der Grünangergasse. Die Erbschaft traten, nach deren Schließung, die Galerien Schapira & Beck in der Ballgasse und die Galerie Kalb in der Prinz-Eugen-Straße jenseits der Ringstraße an. Diesen drei Galerien ist ein aufwendiger Band in der art edition des Verlags Bibliothek der Provinz im niederösterreichischen Großwolfgers gewidmet. Dass Hans Rauscher zugleich einer der Autoren und in seiner Funktion als Kolumnist der Tageszeitung Der Standard Rezensent der Publikation ist, kratzt niemanden, wo das Wort „Gschmäckle“ nicht in Gebrauch ist.
Die zu einem guten Teil ganzseitigen Bilder werden ergänzt durch kenntnisreiche und erinnerungsgeschwängerte Texte von Zeitgenossen wie Christian Ludwig Attersee, Rolf Schwendter oder Christian Reder sowie der Mitherausgeberin Semirah Heilingsetzer, die in den Jahren, um die es geht, den Kinderschuhen noch nicht entwachsen war, sowie durch vergilbte Zeitungsausschnitte. Ältere Jahrgänge begegnen auf den Fotos, von denen sich viele Lisl Ponger, selbst einer hervorragenden Fotografin und Experimentalfilmerin, sowie ihren genialischen Kolleginnen und Kollegen Cora Pongracz, Friedl Kubelka, Gabriela Brandenstein, Franz Hubmann, Otto Breicha verdanken, Originalen, die einst in Wiens Subkultur eine prominente Rolle gespielte haben: Otto Kobalek, Michel Würthle, Hanno Pöschl, Padhi Frieberger, Hubert Fabian Kulterer, Joe Berger, Josef Dvorak, Rudi Wein, der Wirt des legendären Gutruf. Zu den längst in die Kulturgeschichte eingegangenen Künstlern, deren Werke der Prachtband reproduziert, zählen Christian Ludwig Attersee, Arnulf Rainer, Hermann Nitsch, Günter Brus, Walter Pichler, Max Peintner, Peter Kubelka, Dominik Steiger, Bruno Gironcoli, Maria Lassnig (Frauen muss man mit der Lupe suchen, aber das entspricht der historischen Wahrheit jener Jahre), auch der Schweizer Dieter Roth.
Was der Band nur kursorisch andeuten kann, sind die Querverbindungen der hier dokumentierten Bildenden Kunst zur Literatur, für die Gerhard Rühm die Schlüsselfigur war. Dem Anarchismus, dem viele Protagonisten der Wiener Avantgarde anhingen (Stirner und Bakunin waren ihnen näher als Marx und Engels), entsprach in ihrem Schaffen eine Unbekümmertheit gegenüber den Grenzen zwischen Bild, Wort, Musik und szenischer Kunst, auch Film. Wüssten die Jüngeren mehr davon, würden sie beschämt schweigen, statt all das, was man heute schwammig „Performance“ nennt, für eine Entdeckung zu halten. Schlagzeilen verdanken sie lediglich dem kurzen Gedächtnis, um nicht zu sagen: der Ahnungslosigkeit eines größenwahnsinnigen Kulturjournalismus.
(Thomas Rothschild, Rezension für das Online-Magazin KULTURA-EXTRA veröffentlicht am 1. Oktober 2023)
https://www.kultura-extra.de/literatur/rezensionen/buchkritik_Avantgardegalerien.php